Aus aktuellem Anlass haben wir unseren campusA-Initiativkreis zur gegenwärtigen Lage in den verschiedenen Bildungseinrichtungen am campusA, drei Fragen gestellt. In diesem Beitrag befragte Andreas Kehl (Koordinationsbüro) Tomáš Zdražil, seit 2007 Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart. Er lehrt dort, anthroposophisch-anthropologische Grundlagen der Waldorfpädagogik.

Andreas Kehl: Wie beeinflusst die aktuelle Situation die Entwicklungen in Ihrer Einrichtung?

Tomáš Zdražil: Es ist deutlich, dass wir gerade eine revolutionäre Zeit erleben, in der sich die Ereignisse überstürzen. Die Corona-Krise ist ein Einschlag vom großen gesamt-gesellschaftlich Gewicht und ohne Vergleich mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg. Es geht jetzt um die Gesundheit der Menschen, das heißt immer auch um das Menschenverständnis oder das Menschenbild. Es geht um das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, zu den Naturreichen, zur Erde. Das sind alles wesentliche Bildungsfragen. Die ergriffenen Maßnahmen stellen die Grundfeste unserer demokratischen Ordnung in Frage, die Wirtschaft erleidet schwere Verluste. Das Kindeswohl und die psychische und soziale Gesundheit der Kinder sind zurzeit durch Isolation und social distancing gefährdet und geschwächt. Das berührt uns als Pädagogen sehr. Vieles mehr müsste mit großer Betroffenheit im Hinblick auf das Momentane erwähnt werden.

Seit dem 23.3. findet – wie an anderen Hochschulen des Landes auch – an unserer Hochschule kein Unterricht, es finden keine Veranstaltungen, keine realen Konferenzen statt. Es ist für uns als pädagogische Einrichtung, die auf dem menschlichen Miteinander beruht, ein gewaltiger Einschlag ohne realen Unterricht leben zu müssen. Die wichtigste Aufgabe nach dem 23.3. war vom Anfang an ein Online-Kontakt zu unseren Studierenden und auch unter den Kollegen technisch herzustellen. Nach wenigen Tagen haben wir es einrichten können, was ich mit etwas Stolz sage. Wir sind sehr dankbar unseren Kollegen aus dem Von-Tessin-Lehrstuhl für Medienpädagogik, die den Online-Unterricht sehr schnell technisch eingerichtet haben. Der virtuelle Unterricht und Austausch sind natürlich etwas ganz anderes als reale pädagogische Unterrichtssituationen. Wir haben aber im Moment keine Alternative, wenn wir als Hochschul-Gemeinschaft im Kontakt und Austausch bleiben wollen. Wir machen seitdem vielfältige wertvolle Erfahrungen und der Online-Unterricht läuft inzwischen in allen Kursen. Was eine besondere Herausforderung war, war der künstlerische Unterricht, der bei uns natürlich einen hohen Stellenwert hat. Ich bin aber immer wieder sehr beeindruck von der Kreativität und von dem Mut der Kollegen, wenn sie berichten, dass Hörspiele einstudiert werden, dass Naturbeobachten angeleitet und künstlerisch mit den Gedichten und Zeichnungen und anderem aufgearbeitet werden usw.

Selbstverständlich arbeitet die kollegiale Hochschulleitung ununterbrochen weiter. Wesentlich ist, dass wir vom Anfang an auch wöchentlich eine gesamtkollegiale Online-Konferenz veranstalten mit einem pädagogischen und einem mehr technisch-organisatorischen Teil.

A.K.: Welche Chancen oder Gefahren sehen Sie in dieser Entwicklung?

T.Z.: Ich erblicke die größte Gefahr darin, dass sich das besonnene autonome Bewusstsein der Menschen durch die medial gesteuerte und teilweise politisch aufgehetzte Panik und Angststimmung, durch die suggestive und dadurch teilweise manipulative Berichtserstattung weiter trüben lässt und dadurch ideale Verhältnisse geschaffen werden, die eine schnelle Durchsetzung von zentralisierenden und entmündigenden Maßnahmen begünstigen, die die Initiativ- und Kapitalkraft von kleinen Unternehmen schädigen, die kulturelle, künstlerische, religiöse, pädagogische Einrichtungen und Aktivitäten unterbinden. Mit Sorge betrachte ich die weltweite Herrschaft eines einseitigen Menschenverständnisses durch die Mediziner, die viel zu oft psychische und soziale Aspekte der Gesundheit ausblenden und szientistisch und autoritativ agieren.

Ich bin aber sehr angetan, wie viele wesentliche, tiefgründige, aufhellende Analysen der Zeitlage in den letzten Wochen entstanden sind! Alle versuchen aufzurütteln. Markus Gabriel spricht von dem Scheitern der herrschenden Ideologie des 21. Jahrhunderts mit ihrem Glauben auf den naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt. Yuval Harari warnt vor der neuartigen Überwachung „unter der Haut“ des Menschen. Eduard Snowden meint sogar, dass das, „was gerade aufgebaut wird, …eine Architektur der Unterdrückung“ ist. Das sind erschütternde Worte, die wir nicht unterschätzen sollten. Die Corona-Krise spiegelt die Bewusstseinskrise der modernen Menschheit. Jetzt haben wir eine Chance zum Aufwachen in mancherlei Hinsicht. Es kann Umdenken und auch Veränderung des Handelns eintreten.

A.K.: Was kann das für die Zukunft bedeuten – Prävention, notwendige Entwicklungsschritte – vielleicht auch über die Einrichtung hinaus?

T.Z.: Ich arbeite in der Pädagogik und in der Lehrerbildung, deswegen will ich pädagogisch abschließen. Für die Zukunft erhoffe ich mir, dass wir jetzt erleben können, worauf es in der Pädagogik wirklich ankommt, nämlich auf die vollmenschliche Begegnung, die vom realen Interesse, vom Austausch, von der Kreativität und Initiative getragen ist! Wir können jetzt erleben, dass eine Pädagogik der Zukunft nicht auf Standards, Kompetenzerwerb, Leistungssteigerung, Angst und auch nicht auf neuen Medien beruhen kann, sondern auf Beziehung, Salutogenese und Gesundheitsstärkung. Dieses Prinzip der Waldorfpädagogik und Anthroposophie müssen wir weiter stärker und konsequenter herausstellen. Ich hoffe, wir können zusammen mit den Schulen und anderen Partnern in diesem Sinne ganz konkrete Konzepte der Lehrerbildung ausarbeiten.

Tomáš Zdražil, Studium der Geschichte und Pädagogik in Prag, Stuttgart und Bielefeld, Promotion zum Thema der schulischen Gesundheitsförderung, Klassenlehrer und Oberstufenlehrer in Tschechien. Seit 2007 unterrichtet er an der Freien Hochschule Stuttgart anthroposophisch-anthropologische Grundlagen der Waldorfpädagogik.