Eindrücke aus der bildungsART 18, die öffentliche Tagungswoche des campusA Stuttgart und den Tagungspartnern

– Von Ingolf Lindel (Studierender am Eurythmeum Stuttgart)

Bereits zum fünften Mal fand vom 25.2. bis 2.3.2018 die bildungsART als öffentliche Tagung des campusA Stuttgart und den Tagungspartnern statt. Dieses Jahr hatten die Organisierenden ein sehr umfassendes und drängendes Thema auf die Agenda gesetzt: Menschenwürde und Menschenrechte.

Was ist die menschliche Würde und woher kommt sie? Wie steht es um die Menschenrechte und deren Umsetzung?

Hochkarätige Redner waren der Einladung nach Stuttgart gefolgt. Den Eröffnungsvortrag hielt Gerald Hüther, einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands. Er richtete, für einen Wissenschaftler vielleicht unüblich, einen flammenden und sehr persönlichen Appell an die über 700 Zuhörer im Hospitalhof Stuttgart, dass Menschenwürde als zeitgemäße Lebensform zu erringen und zu kultivieren sei. Er sprach von der Nutzlosigkeit hierarchischer Strukturen in einer globalen Welt und dass wir uns nur durch Würde als gelebtem Prinzip eine neue Struktur des Miteinanders aufbauen können, in der wir sowohl uns selbst als auch die Mitmenschen und die Natur respektieren und schätzen.

„…dass wir uns nur durch Würde als gelebtem Prinzip eine neue Struktur des Miteinanders aufbauen können.“

Der Montagmorgen stand dann ganz im Zeichen der Besinnung auf die menschliche Würde. Durch verschiedene kurze Reden und künstlerische Beiträge wurden kleine Lichter entzündet, um die Thematik der Tagung zu verdeutlichen und ins Bewusstsein zu rufen. Abschluss dieser Tagungseinheit war eine künstlerische Performance von Studierenden der Freien Hochschule, in der ein Abschnitt aus dem Text “Über den Begriff der Geschichte“ von Walter Benjamin in bewegender Weise dargestellt wurde: Vier “menschliche“ Engel stehen vor einer riesigen weißen Leinwand, starren nach vorn und werden mit schwarzer und roter Farbe bemalt, während der Text erklingt.

„Es gibt ein Bild…das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt…Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann…Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Zurück bleibt ein beeindruckendes Bild von vier Engeln auf schwarz-rotem Farbchaos, das symptomatisch für die Situation unserer Zeit steht.

In Workshops, die sich über die ganze Woche erstreckten, konnten sich die Teilnehmenden dann mit einem Aspekt des Tagungsthemas tiefer beschäftigen und kontinuierlich daran arbeiten. Im Nachklang und in Gesprächen auf dem Campus wurde deutlich, wie hilfreich die Vertiefung eines Themas über die ganze Tagungswoche hinweg war, um dem Phänomen der Würde näher zu kommen. Ganz besonders schön war es, mit den Workshops einen Raum zu haben, in dem man Menschen begegnen und in gewisser Weise die würdevolle Begegnung wie üben konnte. In solch einen Raum lud auch immer wieder die Euopean-Public-Sphere ein, eine Initiative, bei der Gespräche über Formen einer demokratischeren Gesellschaft geführt und dokumentiert werden.

Dieses Jahr kam bei der bildungsArt sehr bereichernd hinzu, dass die Nachmittage von den einzelnen Bildungseinrichtungen des campusA gestaltet wurden und so ein Einblick möglich war, wie in den verschiedenen Ausbildungen und Seminaren mit dem Thema Würde umgegangen wird. Die Beiträge waren sehr vielfältig und reichten von kleinen Vorträgen über künstlerische Darbietungen bis hin zur eigenen Erprobung der Schwerpunkte der verschiedenen Einrichtungen. Diese Nachmittage hatten den Effekt, sich über das eigene Fach, das man studiert, hinaus mit den anderen Menschen am Campus verbinden zu können und gemeinsam die Perspektiven auf die Würde kennenzulernen und zu erforschen. Wie sieht es mit der Wahrung der Würde und den Menschenrechten im Krankenhausalltag aus? Wie kann ich mich würdig bewegen? Wie gewährleiste ich eine würdevolle Erziehung des kleinen Kindes, um nur einige der Fragen zu nennen, die bewegt wurden.

„Dieses Jahr kam bei der bildungsArt sehr bereichernd hinzu, dass die Nachmittage von den einzelnen Bildungseinrichtungen des campusA gestaltet wurden und so ein Einblick möglich war, wie in den verschiedenen Ausbildungen und Seminaren mit dem Thema Würde umgegangen wird.“

Die Abende wurden passend zum Tagungsthema mit künstlerischen Darbietungen des Studios für Stimmkunst und neues Musiktheater, des Else-Klink-Ensembles und mit freien Beiträgen der Teilnehmenden begangen. Vieles davon ging unter die Haut und bewegte tief, so beispielsweise das Klavierquintett von Dimitri Schostakowitsch in eurythmischer Darstellung, welches die unwürdige Situation des russischen Komponisten im stalinistischen Regime zum Ausdruck brachte, oder die intensive, teils beklemmende zeitgenössische Gesangs-Choreografie “Barrikaden“, die die vielfach verübten aktuellen Verletzungen der Menschenrechte thematisierte.

Am Dienstag morgen zeichnete Constanza Kaliks, Leiterin der Jugendsektion am Goetheanum, eine kurze Geschichte der Menschenrechte und verdeutlichte, dass wir es mit einem Baby der Menschheit zu tun haben. Gerade einmal etwa siebzig Jahre existieren die Menschenrechte als rechtliche Form, innerhalb derer die Würde gesichert und praktiziert werden kann. Doch welches Menschenbild braucht es, um diesen Raum auszufüllen? Sie machte deutlich, dass dieser Würde-Raum das Ich des Menschen als ein Zentrum und gleichzeitig als eine Verknüpfung mit anderen Ichen beherbergen muss. Stark und eindringlich hob sie hervor, dass es dazu notwendig ist, die eigene Menschenerkenntnis nicht zum Maßstab für einen anderen Menschen werden zu lassen, sondern es zuzulassen, dass sich ein jeder gemäß seiner eigenen Individualität entwickelt. Was aus diesem lebendigen, nie feststellbaren Menschenbild entsteht, ist weder vorhersehbar noch widerrufbar, aber die einzige Möglichkeit Freiheit und damit Würde zu praktizieren.

„Stark und eindringlich hob sie hervor, dass es dazu notwendig ist, die eigene Menschenerkenntnis nicht zum Maßstab für einen anderen Menschen werden zu lassen, sondern es zuzulassen, dass sich ein jeder gemäß seiner eigenen Individualität entwickelt.“

Am Mittwoch morgen schließlich sprach der Geschäftsführer der Sekem-Initiative, Helmy Abouleish, über die Förderung menschlicher Entwicklung. Er erzählte davon, wie es möglich wurde, die Idee der landwirtschaftlichen Sekem-Initiative im Zusammenhang mit der Entwicklung der teilnehmenden Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Als eindrückliche Aussage bleibt in Erinnerung, dass sich nur die Ideen als zukunftsträchtig erwiesen haben, welche unmöglich zu realisieren erschienen.

„…dass sich nur die Ideen als zukunftsträchtig erwiesen haben, welche unmöglich zu realisieren erschienen.“

Abends gab es wieder einen Vortrag im Hospitalhof. Niko Paech, Lehrbeauftragter an der Universität Siegen, beleuchtete die wirtschaftliche Seite des Tagungsthemas und stellte unter dem Titel “Postwachstumsökonomie als Wirtschaft des menschlichen Maßes“ verschiedene Konzepte des würdigen Wirtschaftens vor. Dabei ging es ihm um einen bewussten Konsum und eine Wirtschaft in kleinen Einheiten, in denen alles vorkommt, was ein auf Qualität ausgerichteter Verbraucher mit modernem Lebensstandard benötigt.

Ein Highlight war am Donnerstag der Beitrag von Johannes Greiner. Berührend und zugleich kontrovers wurden die Zuhörenden eingeladen, an den Gedanken und Erlebnissen eines Menschen teilzunehmen, der einen spirituellen Zugang zur Welt pflegt und diesen auch mitteilt. Auf diese Art schilderte Johannes Greiner, dass die Menschheit im Zeitalter der Freiheit noch nicht erkannt hat, wie sie diese Freiheit zum würdigen Dasein Aller einsetzen kann. Im Gegenteil, so Greiner, habe die Menschheit durch ihre Freiheit Katastrophen hervorgerufen, welche sie ohne den Einsatz helfender geistiger Mächte bereits in die Vernichtung getrieben hätten (Atombombenabwurf und deren vernichtende Folge im geistigen Kosmos). Letztendlich wurde der Vortrag zur Plattform für die Frage, ob aus solchen unwürdigen Taten ein Bewusstsein entstehen kann, das sensibel und aufmerksam für die Würde des Menschen werden lässt.

Mit dem Abschlussvortrag von Gerald Häfner, Leiter der Sektion für Sozialwissenschaften am Goetheanum und ehemaliger Bundestags- und Europaabgeordneter, schloss sich am Freitag der Kreis zum Eröffnungsbeitrag. Wie können wir würdig miteinander leben, wenn hierarchische Strukturen nicht mehr vorgeben, wie wir zu handeln haben? Gerald Häfner wies auf das Recht und insbesondere die Menschenrechte als Grundlage der Würde hin, die ihren Ursprung aber in uns selbst haben. Er lenkte den Blick darauf, wo wir mit der Verwirklichung der Menschenrechte heute stehen und richtete den Fokus besonders auf Deutschland und die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Dabei sprach er über die unwürdige Verteilung des Reichtums, darüber, wie die Verbindung von Arbeit und Lohn einen falschen Begriff von Arbeit aufrechterhält und wie das Geld wieder zum Diener des Menschen werden könnte. Er schilderte persönliche Begegnungen, mit denen er den Zuhörenden verdeutlichte, wie ökonomische Zwänge die Wahrhaftigkeit und die Würde des Menschen bedrohen und nur wir selbst für dasjenige verantwortlich sind, für was wir mit unserer Person einstehen. Die Wahrung der Würde und der Menschenrechte als Orientierung für das Leben in allen Bereichen, egal ob gesellschaftlich, wirtschaftlich oder privat, war seine Botschaft.

„Die Wahrung der Würde und der Menschenrechte als Orientierung für das Leben in allen Bereichen, egal ob gesellschaftlich, wirtschaftlich oder privat, war seine Botschaft.“

Zwei Kunstinstallationen luden im Foyer des Rudolf Steiner Hauses zur stillen Vertiefung und zum Nachdenken ein. Die Installation von Olga Schiefer und dem Kunstfachjahres der Freien Hochschule zeigte mehrere aus Erde und Gips geformte menschliche Leiber in Lebensgröße auf dem Boden liegend. Die Gestalten wirkten, als ob sie im Schlaf von einer vernichtenden, alles in Asche legenden Kraft heimgesucht worden wären, und schienen an die Folgen von Verletzungen der Würde und der Menschenrechte weltweit zu gemahnen. Doch dann, im Laufe der Tagung begannen sich aus der verbrannten, aber doch lebenden Erde kleine grüne Halme empor zu stemmen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verkündeten.

„Doch dann, im Laufe der Tagung begannen sich aus der verbrannten, aber doch lebenden Erde kleine grüne Halme empor zu stemmen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verkündeten.“

Das andere Kunstwerk, eine Videoinstallation von Ruth Bamberg und Studierenden des Tschechow Studios Berlin, zeigte junge erwachsene Menschen auf der Leinwand, wie sie etwas suchen, etwas untersuchen. Im Hintergrund Bilder von Umweltzerstörung, urbanen Städten etc. Dann plötzlich unberührte intakte Natur und träumende Gesten der Menschen, als ob diese innerlich eine Zukunft zu errichten versuchten, die ein Leben im Einklang von Mensch und Natur vorsieht.

Durch die Werke wurde es möglich, sich noch einmal auf eine andere, viel mehr eigene und intime Weise mit dem Tagungsthema zu beschäftigen und beim Erleben, Verschmelzen und vielleicht Enträtseln der jeweils gewählten Ausdrucksform selbst innerlich zum Würdekünstler zu werden.

Zuletzt lag die besondere Stimmung der Tagung aber auch an den Vortragenden. Sie alle sprachen, jeder auf seine Weise, mit einer Eindringlichkeit und einem Engagement, was ihre tiefe Verbundenheit mit dem Tagungsthema zeigte und bleibende Eindrücke hinterließ, die zum Nach- und Weiterdenken animierten. In dieser Tiefe war es möglich sich selbst zu begegnen und im entstehenden Raum die eigene Würde wahrzunehmen. Das wiederum wirkte sich stark auf die Gedanken aus, welche in Gesprächen mit Freunden und in neuen Bekanntschaften bewegt wurden.

Mit den vielen positiven Eindrücken und Erlebnissen im Nachklang erwarte ich in großer Freude die kommende bildungsART im nächsten Jahr.