Ein Beitrag von Niklas Hoyme.

»Die Idee der Bildung ist die einzige Idee, welche der moderne Mensch dem mittelalterlichen entgegenhalten kann, wenn nach einem Begriff gefragt wird, der das Leben des Individuums in seinem ganzen Umfang zu umfassen, zu organisieren und zu richten vermag. Sie leistet uns das, was dem mittelalterlichen Menschen die Idee des Seelenheiles leistete.«(1)

Diese Worte über den modernen Menschen und seine Beziehung zum Bildungsbegriff notierte der bekannte Romanist Ernst Robert Curtius 1910 in einem von ihm angelegten Schreibheft mit dem Titel: ›Goethe‹. 22 Jahre später, 1932, stellt er das Werk ›Elemente der Bildung‹ fertig, in dem er eine gedankliche Besinnung rund um den Begriff der Bildung versucht, veröffent­licht es jedoch nicht. Erst 2008 wird das Werk unveröffentlicht in seinem Nachlass gefunden und 2017 im Verlag C.H. Beck publiziert. Für Curtius ist klar: Wer sich in Deutschland mit dem Gebiet der Bildung beschäftigt, muss sich hinarbeiten zu der Frage, »was Bildung sein kann und sein soll«(2). Sein Anliegen: dem Bildungsbegriff ein Fundament geben, das zu einem »Wiederaufbau des Bildungsgedankens«(3) führen soll. Er fragt sich – ähnlich wie die ›bildungsART 19‹ – was Bildung ihrem Kern nach ausmacht. Curtius selbst schöpft aus den Ideen Max Schelers (4) und besonders aus Johann Wolfgang von Goethes (5) großer Gedankenwelt, dessen Zitate und Werke dem aufmerksamen Leser immer wieder bei der Lektüre entgegenkommen. Auch und gerade darum ist die enge Verbindung zwischen Goethe und Curtius interessant, da es neben Rudolf Steiner – von dem ja das Motto der Tagung stammt: »Das Wissen hat nur dadurch Wert, dass es einen Beitrag liefert zur allseitigen Entfaltung der ganzen Menschennatur« – jemanden wie Curtius gibt, der ebenfalls aus der goetheschen Gedankenwelt heraus Überlegungen zum Begriff der Bildung, seiner Verkümmerung in der damaligen Zeit und Perspektiven für ein Neugreifen des Bildungsgedankens entwickelt.

Nützlichkeit des Wissens
Curtius arbeitet gleich im ersten Kapitel ›Theorie und Praxis‹ heraus, dass das Argument, das Wissen hätte seine Berechtigung rein um des Wissens willen verfehlt sei: »Wissen, um des Wissens willen ist ebenso verfehlt wie Kunst, um der Kunst, Wirtschaft, um der Wirtschaft willen.« Dennoch beschreibt er mit einem Beispiel aus der Geschichte, dass die heutige Technik nicht möglich gewesen wäre ohne die Forschungen von Kopernikus aus dem 17. Jahrhundert. Damals hatte dieser jedoch noch keine direkte Anwendung im Kopf. Das Wissen konnte erst Jahrhunderte später seinen Nutzen in der Welt entfalten. Curtius schließt also, dass »wir uns nicht dem Fetisch des Wissens opfern [müssen], sondern uns vielmehr von dem Satz überzeugen, daß die volle Ausnützung und Auswertung menschlichen Daseins nur dann möglich ist, wenn wir allen scheinbar nutzlosen Tätigkeiten des Menschen den weitesten Spielraum lassen. Diese Einsicht gilt nicht nur für die Astronomie, sondern ebenso sehr für die Philosophie, für Dichtung, Tanz, bildende Kunst und Musik« (6). So sollten wir uns nach Curtius daran gewöhnen, nicht nur nach dem Zweck der Dinge, sondern nach ihrem Sinn zu fragen: »Welchen Sinn kann dieses Wissen, dieses Ereignis, dieses Sachgebiet für mich gewinnen?« (7) Das Wissen muss einen Sinn haben für die Existenz des Menschen.

Nützlichkeit und Sinn
Nach Curtius stellen wir uns, wenn wir etwas lernen, immer wieder die Frage nach der Nützlichkeit der Bildung: »Was nützt mir das, was ich hier lerne«? Heute leben wir in einer Zeit, in der wir in unseren Bildungseinrichtungen, seien es Schulen oder Universitäten, meistens bei dieser Frage stehen bleiben. Wir sprechen von »employability« – wie werden unsere Schüler und Studenten fit für das heutige Arbeitsleben? – anstatt, wie Curtius vorschlägt, den Nützlichkeitsgedanken durch den des Sinnes zu ergänzen. Doch wo liegt der Unterschied zwischen etwas Nützlichem und etwas Sinnvollem? Eine nützliche Bildung lebt aus einer Verwertungslogik: Wie kann ich das, was ich hier tue, möglichst gewinnbringend in meinem Leben anwenden?
Die andere Frage nach dem Sinn von Bildung übersteigt, wie Curtius richtig erkennt, diesen Raum des Ökonomischen. Es gibt also Dinge, von denen es zu sagen gilt, dass sie nützlich seien, jedoch nicht unbedingt sinnvoll. Sinnvolle Bildung müsste eine Bildung sein, die Sinn spendet. Lebenssinn. Eine Bildung, in der Sinn sich offenbart, sodass das eigene Leben dadurch inspiriert wird. In dieser Art der Bildung wird, und darauf macht Curtius besonders aufmerksam, die Frage nach dem Sinn des Lebens berührt und bearbeitet. Hat also Bildung einen Sinn, wenn sie wie heute rein verwertungslogisch, unter einem reinen Nutzenaspekt gedacht wird?

Bildung und Sinn
Curtius bezieht sich in ›Elemente der Bildung‹ immer wieder auf den von Max Scheler entwickelten Begriff des »Bildungswissens« (8). Die Gebiete und Gegenstände der Bildung müssten nach Curtius »soweit als irgend möglich nach ihrem Sinngehalt erschlossen werden« (9). Dieses Aufschließen der Bildungsgegenstände bezeichnet Curtius als »Bildungswissen«. Dies ist der eigentliche Bildungsprozess, die Sinnerschließung in der Welt. Die Sinnsuche des Menschen in seiner Biografie gilt nach Curtius dem Lebenssinn. Von dem Suchen nach dem Sinn der eigenen Biografie würde der Mensch darauf kommen können, was es mit dem Sinn menschlichen Lebens überhaupt auf sich habe: »Je größer die Gewißheit ist, die er [der Mensch] von dem ›biographischen Sinn‹ hat, um so tiefer wird er von dem Lebenssinn überhaupt überzeugt sein«. (10) Das ist das Anliegen Curtius’, den Bildungsbegriff so zu erweitern, dass Bildung nicht bei einem reinen Wissen von Inhalten stehen bleibt. Ihm geht es um das Aufschlüsseln der Inhalte, um einen Sinnfindungsprozess (für meine eigene Biografie und für das Leben überhaupt) in dem, was mir begegnet. Gleichzeitig bemerkt man, dass das Nachdenken über das Wesen der Bildung, wie auf der bildungsART19 geplant, mehr als nötig ist – vielleicht ja auch mit Ernst Robert Curtius und seinem Werk ›Elemente der Bildung‹.

Niklas Hoyme

Philosophiestudent an der Cusanus-Hochschule und ehemaliger Teilnehmer am Jugendseminar in Stuttgart.

Literaturverzeichnis:
1 Ernst Robert Curtius: ›Elemente der Bildung‹, 2017, S. 221. 2 A.a.O., S. 15. 3 Ebd.; 4 Max Scheler (1874-1928), dt. Philosoph, Soziologe und Anthropologe. 5 »Die deutsche Kultur des 18. Jh. hat sie [die Bildung] erzeugt, Goethe hat sie am lebendigsten und am eindrucksvollsten geformt. In der Gestalt, die er ihr gegeben hat, ist sie in das deutsche Bewußtsein aufgenommen worden. Das Scipionenkreisproblem des sich bildenden Individuums ist eines der größten Probleme gewesen, die Goethe während seines ganzen Lebens beschäftigt haben. Faust, Tasso, Meister, Wahrheit & Dichtung, Wahlverwandschaften sind die großen Werke, die davon erfüllt sind.« – Aus einem von Curtius angelegten Schreibheft mit dem Titel: ›Goethe‹, vgl. Curtius: op. cit., S. 221. 6 A.a.O., S. 24. 7 A.a.O., S. 25. 8 Scheler entwickelt in seinem Werk: ›Die Formen des Wissens und die Bildung‹ (1925) drei verschiedene Formen des Wissens, auf die sich Curtius immer wieder bezieht: 1. Herrschafts- oder Leistungswissen, 2. Bildungswissen, 3. Erlösungswissen. 9 Vgl. Curtius: op. cit., S. 44. 10 Ebd.