Ein Beitrag von Ingolf Lindel.

Bewegungslos saß er auf der kleinen Holz­ter­rasse der Berghütte. Ganz unten im Tal konnte er das kleine Dorf erkennen, in dem er sich ein Haus gekauft hatte, durch dessen Garten sogar ein Bach floss. In einem kleinen Nebenarm schwoll das Gewässer zu einem Teich an, der beinahe halb so groß war wie der ganze Garten des Hauses. So hatte er sich sein Leben immer vorgestellt: ruhig, idyllisch und ohne Stress.
Zufrieden lehnte er sich zurück und betrachtete das Resultat der harten Arbeit, die er über viele Jahrzehnte seines Lebens geleistet hatte. Beinahe war ihm die Fähigkeit zu genießen abhandengekommen, doch als er sich die warmen Sonnenstrahlen aufs Gesicht scheinen ließ, da erinnerte er sich wieder, wie wichtig es ist, von Zeit zu Zeit auszusteigen und alles, was man geschaffen hat, von oben zu betrachten. Von seinem exponierten Platz hoch oben auf der Terrasse hatte er einen guten Ausblick auf das Leben im Tal.

Doch nicht nur das: Er hatte auch das Gefühl, mit Distanz und Objektivität auf das schauen zu können, was er in seinem Leben bereits getan hatte. Nicht alles war gut gewesen, einiges hatte er korrigieren müssen, um sich diese Ruhe und Gelassenheit leisten zu können, die er jetzt sehr genoss. Alles in allem wusste er, warum er was wie getan hatte, und so war es umso schöner, nun die Früchte der getanen Arbeit ernten zu können.

Eine halbe Stunde saß er so da und schlief beinahe ein, ohne dass seine Gedanken dabei jedoch stillgestanden hätten. Da erreichte ihn plötzlich der Impuls seinen Blick in die andere Richtung zu lenken, nicht hinab ins Tal, sondern dem Gipfel des Berges entgegen.

So stand er auf, ging um die Berghütte herum und machte sich auf den Weg bergan.
Eine ganze Weile war er schon gelaufen, als er auf eine grüne Bergwiese kam, die von einem klaren Bach durchzogen wurde. Durstig neigte er sich zum Wasser, um eine Handvoll zu schöpfen, da sah er eine einzelne Forelle, die regungslos gegen die Strömung gerichtet im Bach verweilte. Fasziniert hielt er inne und beobachtete das Tier, wie es scheinbar mühelos dem doch recht starken Zug des Wassers trotzte. Die Sonne warf ihr Licht auf die Schuppen der Forelle, und so blitzten und funkelten sie in den schönsten Farben. Tief berührt von diesem Anblick griff er wie selbstverständlich ins Wasser, um dieses schöne Tier zu berühren, doch blitzschnell war die Forelle, scheinbar ohne jeglichen Kraftaufwand, einen Meter stromaufwärts geschwommen, ohne dass er sie auch nur gestreift hätte.

Wann zeigen sie ihr wahres Sein und wann nur dessen Schein?

Lachend schüttelte er den Kopf, wohl wissend, dass er es nie fertigbringen würde, ihr auch nur bis auf einen Zentimeter nahezukommen. Also begnügte er sich damit, die Schönheit des reflektierenden Lichtes zu betrachten, das ihm von den in allen Farben glitzernden Schuppen des Fisches entgegenblitzte.

Und als er so in den Anblick versunken da stand, da war es ihm für einen Moment, als würde die Sonne selbst aus der Forelle strahlen. Schon öfter hatte er diese merkwürdigen Fische im Sonnenlicht gesehen und sich den Kopf darüber zerbrochen, warum sie nur dann funkeln können, wenn sie beschienen werden. Wann zeigen sie ihr wahres Sein und wann nur dessen Schein, fragte er abermals, während er in sich versunken in den Bach starrte.

Nach einiger Zeit wurde er hungrig und machte sich auf den Rückweg: »Auf Wiedersehen, du schönes Tier!«, hörte er sich leise sagen, nicht ohne die Hoffnung in seinem Herzen zu übersehen, die ihn glauben machte, die Forelle würde irgendwann den Weg hinab ins Tal nehmen und eines Tages im Teich seines Gartens auf ihn warten. »Auf Wiedersehen, du schönes Tier«, sagte er erneut. »Auf dass wir uns wieder treffen!«

Noch zwei Tage verbrachte er auf dem Berg, bevor er sich auf den Weg zurück in sein kleines Dorf machte.

Einige Zeit noch musste er fast jeden Tag an den Anblick des schönen Fisches denken. Nach einigen Wochen in seinem Dorf hatte ihn der Alltag jedoch eingeholt und zwischen Verpflichtungen und der vielen Arbeit, die ihm sein Garten bescherte, vergaß er die Begegnung mit der Forelle.

Doch eines Nachts, etwa ein Jahr nach dem Erlebnis am Bergbach, hatte er einen sonderbaren Traum. Er träumte, dass er mitten in der Nacht von einem Licht aufgeweckt wurde, das hell aus dem Garten in sein Häuschen strahlte. Als er im Traum aus dem Fenster blickte, da sah er eine einzelne Forelle in der Mitte des Teiches, die so hell strahlte, dass sie das Wasser und den ganzen Umkreis wie eine Sonne warm erleuchtete.

Als er am Morgen erwachte, blieb er noch einige Minuten in seinem Bett liegen und wunderte sich über diesen Traum, ohne sich aber an seine Begegnung mit der Forelle in den Bergen zu erinnern. Noch leicht verträumt und schlecht gelaunt wegen des grauen und regnerischen Wetters ging er in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Da sah er durch das Fenster, dass eine Gruppe von Kindern, ohne um Erlaubnis gebeten zu haben, einfach in seinen Garten gekommen waren, um am Teich zu spielen. Schon wollte er das Fenster aufreißen und die Kinder verscheuchen, da bemerkte er, wie sie gebannt und regungslos ins Wasser starrten.

Wie ein Blitz durchzuckte es ihn. Noch im Schlafanzug stürzte er nach draußen und rannte zum Teich. Als er ins Wasser sah, konnte er seinen Augen kaum trauen: In der Mitte des Teiches stand eine Forelle, seine Forelle, regungslos im Wasser und leuchtete, genau wie er es in seinem Traum erlebt hatte. Sofort blickte er zum Himmel, um die Sonne zu suchen, die ihr Licht in dem Tier reflektierte, doch außer dicken, regenschweren Wolken konnte er nichts dort oben entdecken.

Diese Tatsache brachte eine nie gekannte Freude in seinem Herzen zum Strahlen, die ihn dankbar auf die Knie sinken ließ. »Ein Teil der Sonne selbst, hier, mitten in meinem Garten«, hörte er sein strahlendes Herz sagen. – Die Forelle erwiderte ihm das Gleiche.

Ingolf Lindel

Student am Eurythmeum Stutt­­gart, seit 2018 im campusA-Koordinationsbüro tätig und Mitorganisator der ›bildungsART19‹.