Das Priesterstudium in der Christengemeinschaft.

Ein Beitrag von Kore Brand.

Ich reise sehr gerne mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn ich neben unbekannten Menschen sitze, frage ich mich, wer sie sind und worüber sie gerade nachdenken. Wir kommen ins Gespräch und interessanterweise gehen die­se Gespräche oft sehr tief. Meistens erfahre ich erst beim Aussteigen oder auch gar nicht den Namen meines Sitznachbarn. Dafür durfte ich Einsicht in sein Inneres bekommen, in seine innigen Wünsche und Probleme – und er in meine. Es scheint so eine Art Ehrenkodex der Reisegespräche zu geben, dass man hier über alles sprechen darf.

Seit ich am Priesterseminar bin, gibt es allerdings eine unerwartete Schwierigkeit. Was sage ich, wenn das Gespräch – und es kommt beinahe immer dazu – zu der Frage führt, was ich studiere. Was soll ich nur darauf antworten? Am Anfang des Studiums fiel es mir erstaunlich schwer. Ich hatte fast Angst vor der Reaktion meiner Sitznachbarn. Würde er oder sie mich für verrückt erklären? Was denken sie, wenn ich das Wort »Priester« ausspreche?

Mittlerweile habe ich aber erkannt, wie wertvoll diese Fragen eines Unbekannten für mich selbst sein können. Man kann nicht einfach sagen: »Ich studiere an einem Priesterseminar der Christengemeinschaft«, ohne sich immer wieder von neuem zu fragen, warum ich es eigentlich tue. Ich kann die darauf folgenden Fragen nicht beantworten, ohne mich selbst zu prüfen, ob ich hier wahrhaftig an dem „richtigen“ Platz gelandet bin. Eine der häufig gestellten Fragen – neben denen zum Zölibat und der Frau im Priestertum – ist zum Beispiel: »Bist Du also wirklich gläubig?« Jetzt gilt es, Farbe zu bekennen. Glaube ich? Und woran glaube ich? Was macht mich so sicher, dass es eine göttlich-geistige Welt gibt? Ich muss immer wieder eine plötzlich auftauchende Beklemmung überwinden, um wahrhaftig zu bleiben. Ich habe bemerkt, dass es in Europa immer weniger üblich ist, zum Beispiel zu zeigen, dass man betet. Vielleicht betet man noch für die Kinder vor dem Essen oder beim Zubettgehen. Aber ansonsten betet man lieber dann, wenn es niemand merkt. Das religiöse Gefühl im Menschen ist immer innerlicher und intimer geworden. Man spricht nicht darüber. Welches Kind weiß schon, ob seine Eltern beten oder nicht? Das Empfinden, ein göttliches Wesen zu sein, ist so intim und zart, dass man genau da nicht verletzt werden will. Was, wenn der Gegenüber mich auslacht? Habe ich dann die innere Sicherheit, die mich vor einem Zerbrechen bewahrt?

Im Lauf der Zeit habe ich etwas Erstaunliches herausgefunden. Wie oft saß ich nicht schon neben Menschen, von denen ich dachte, dass sie sicherlich kein Interesse an religiösen oder spirituellen Fragen haben! Es hat sich bisher nicht bewahrheitet. In dem Moment, wo ich mich zu meiner eigenen Suche bekenne, ist es, als ob sich eine unsichtbare Türe öffnet. Die schönsten Gespräche über – buchstäblich – Gott und den Sinn der Welt kommen zustande. Noch kein Mal wurde ich verurteilt, wie ich befürchtet hatte.

Schon einige Male bin ich Menschen begegnet, die bisher in ihrem Leben noch niemandem verraten hatten, dass sie an eine geistige Welt glauben. Mittlerweile kenne ich schon Menschen, die noch keine Kirche besucht haben, aber fest davon überzeugt sind, dass es etwas Höheres gibt, was sie zum Beispiel in ihrem Schicksal erleben können. In solchen Reisegesprächen sprechen sie es aus. Und wir erleben beide, wie gut es tut.

Ich glaube, dass es immer wichtiger wird in der heutigen Zeit, Farbe zu bekennen.

Einmal wurde ich auf einer Tagung mitten in der Nacht geweckt, weil jemand gehört hatte, dass ich an einem Priesterseminar studiere, und unbedingt mit mir sprechen wollte. Jemand anders, den ich nur flüchtig von der Zeit vor dem Seminar kannte, schrieb mir eine Mail mit der Bitte, uns zu treffen, um zu reden. Beide waren in einem Umfeld aufgewachsen, welches ein religiöses Empfinden belachte. Sie hatten Angst, ihren Freunden und ihrer Familie gegenüber zu »gestehen«, dass sie anders auf die Welt schauen, spürten aber immer deutlicher die Notwendigkeit, mit jemandem über ihr Innerstes zu sprechen, von dem sie sich versprachen, dass er sie nicht verurteilen würde. Bei solchen Gesprächen wird ein Thema immer wieder deutlich: Viele Menschen haben ein feines Gespür für das Höhere in sich und im Umkreis, aber für viele Menschen, die ich getroffen habe, hat dieses innerliche Empfinden äußerlich keinen Platz. Denn was ist, wenn schon die engste Familie eine geistige Welt strikt ablehnt und über »die Gläubigen« lacht?

Viel schwerer, als vor Unbekannten über das Priestertum zu sprechen, fällt es mir vor meinen engsten Bekannten und Verwandten. Je besser ich meine Mitmenschen kenne, desto beengter werde ich von der Angst vor der Reaktion. Wenn ich mit Freunden von früher über meinen jetzigen Weg spreche, wird mir deutlich, was für ein zartes Pflänzchen das religiöse Empfinden noch ist. Ein höhnisches Lachen an der falschen Stelle könnte dafür sorgen, dass man es für immer begräbt und ignoriert, wenn man nicht den Mut aufbringt, unabhängig von der Reaktion der Mitmenschen seinem Gespür treu zu bleiben.

Ich glaube, dass es immer wichtiger wird in der heutigen Zeit, Farbe zu bekennen. Ich bewundere Menschen, die sich illusionslos zu sich selbst bekennen; die sich und der Welt ihre Schwächen eingestehen und gleichzeitig wissen, dass sie mehr und größer sind als die­se eine Seite. Es hat eine große Kraft, sich zu seinem Glauben an das Göttliche im Menschen und an eine sinnvolle Welt zu bekennen. Es ist, als ob da etwas in dem Gegenüber räsoniert, der tief drinnen und manchmal bisher unbemerkt das Gleiche empfindet.

Sich bekennen heißt voll und ganz »Ich« zu sich und seinem Schicksal sagen zu können. Es ist ein Akt der Freiheit: der Freiheit von der Angst vor der Reaktion der anderen und auch der Freiheit gegenüber dem, was uns innerlich besetzt hält. Uns zu unseren Schwächen zu bekennen, setzt einen gewissen inneren Abstand zu ihnen voraus. Sie verlieren an Kraft, wenn wir sie durchschauen und anerkennen, dass sie Teil von uns sind. Gleichzeitig bemerken wir eine neue Kraft, die an ihre Stelle tritt. Eine Kraft, die wir tief verborgen in uns tragen und oftmals nicht bemerken. Mich zu dieser Zukunft bringenden Kraft in mir zu bekennen, ist für mich sogar schwieriger als zu meinen Schwächen – und gleichzeitig spüre ich immer deutlicher, dass es der Wahrheit entspricht.

Kore Brand

geboren am 3. September 1994 in Herdecke gemeinsam mit einer Zwillingsschwester. Besuchte den Waldorfkindergarten und die Waldorfschule bis zur 10. Klasse. Anschließender wechsel auf ein Gymnasium, wo sie ihr Abitur absovierte. Nach dem Abitur verbrachte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in der anthroposophischen Lebensgemeinschaft Kfar Rafael in Israel. Anschließend kam sie an das Priesterseminar der Christengemeinschaft nach Stuttgart. Dort hat sie die ersten zwei Jahre des Grundstudiums abgeschlossen und absolvierte ihr Praktikum in einer Gemeinde in Melbourne, Australien.