Islam und Anthroposophie. Geht das?
Ein Beitrag von Lina Al-Chalabi.
Ich habe lange nachgedacht, was und wie ich schreiben soll. Weder mehr als nötig noch weniger als möglich möchte ich sagen. Eine Freundin riet mir, einfach aus dem Herzen zu schreiben. Genauso ist es geschehen. Nun hoffe ich, dass Ihr durch das Geschriebene mein Gefühl versteht.
Ich begeistere mich sehr für Physik und wollte nach meinem Bundesfreiwilligendienst in Deutschland eigentlich Physik studieren. Aber das Schicksal hat mich dann – Gott sei dank – zuerst zur Waldorferzieher-Ausbildung in Stuttgart geführt. Alles lief sehr schnell: Innerhalb von zwei Wochen zuerst die Idee, die Bewerbung und letzendlich die Zusage vom Seminar. Nur eine Sache war noch nicht ganz fertig: die Zustimmung von meinem Ich. Eine Stunde saß ich nur da und habe nachgedacht, um mir darüber klar zu werden, ob ich wirklich diese Ausbildung beginnen möchte. Mit meinem Bachelor, den ich im Jemen gemacht habe, hätte ich versuchen können, als Ingenieurin zu arbeiten, aber der Gedanke daran, nur mit Kabeln und den Zahlen Null und Eins zu arbeiten, erschien mir sehr einseitig. Vielmehr hatte ich das Bedürfnis, die Entwicklung des »kleinen Menschen« kennenzulernen – daraufhin erhielt ich die Zusage von meinem Ich.
Man muss es ganz machen, man kann nur ganz Mensch sein und nicht halb.
Ich bin als Muslima aufgewachsen und von Kindheit an mit dem edlen Koran und mit dem Leben der Propheten vertraut, an die ich alle glaube und zwischen denen ich keinen Unterschied mache, so wie es der Gott uns im Koran befohlen hat (Koran 2,285). Das Leben mit dem Koran führt dazu, ihn immer tiefer zu verstehen. Am Anfang waren die Worte »eng«, jetzt sind sie »weiter«. Man kann den Koran nicht durch ein Wort, nur aus einem Abschnitt heraus verstehen. Der Koran kam nach und nach mit dem Leben Mohammeds, Friede sei mit ihm, und so hat jeder Abschnitt einen geschichtlichen Hintergrund, den man kennen muss. Man muss den Koran ganz kennen, um die Details zu verstehen. Man kann nicht mehr nur halb wissen! Wenn man nur halb weiß, wird man ihn entweder falsch interpretiern oder ganz ablehnen. Man muss sich wirklich damit beschäftigen und damit leben. Man muss es ganz machen, man kann nur ganz Mensch sein und nicht halb. Viele sprechen davon, den Islam zu verbreiten. Es ist aber nicht das Wichtigste, den Koran als Buch zu verteilen, sondern in erster Linie geht es darum, Mensch zu sein. Das lädt ein. Außerdem muss ich sagen, dass bei der Übersetzung des Korans aus dem Hocharabischen in eine andere Sprache mindestens die Hälfe des Wertes der Sprache verloren geht. Die Bedeutung kommt oft falsch an, da die Worte in der arabischen Sprache eine ganz andere Herkunft haben und deswegen einen anderen Sinn vermitteln. Sehr viele Namen und Begriffe haben beispielsweise ihre Wurzel in Tätigkeiten.
Anfangs war es nicht einfach für mich, den Mut aufzubringen, eine andere Philosophie kennenzulernen. Es hat mich Überwindung gekostet, mich auf die Anthroposophie einzulassen. Aber ich wollte es. Ich wollte wissen, wie andere Menschen denken, um sie zu verstehen. Die Frage war: Wie kann ich diese beiden Welten kombinieren? Finde ich Zugänge zum Islam und zur Anthroposophie?
Die Lehrer, im allgemeinen und speziell unsere Dozenten im Seminar, bewundere ich und schätze sie sehr. Von jedem lerne ich sowohl Inhalte als auch eine neue Art und Weise, Mensch zu sein. Die Unterrichte sind sehr erfüllend und reichhaltig: Ich habe angefangen, den Koran anthroposophisch zu betrachten und mit dieser neuen Sprache, nämlich Anthroposophie auf deutsch, wiederum in die arabische Sprache und den Koran einzutauchen. Je mehr ich mich für andere Sprachen und Gedanken, insbesondere die Anthroposophie öffne, desto weiter und tiefer verstehe ich den Koran. Es sind herrlich fantastische Momente, wenn ich Abschnitte, nach über 20 Jahren Leben mit dem Koran, während des Unterrichts auf einmal verstehe. Ich kann dann sogar mein »Aha!« nicht stumm sagen. Als Muslima mache ich keinen Unterschied zwichen den Phropheten (Koran 2,286). Zwischen den Lehrern aber tue ich das schon. Meine Lieblingslehrer sind diejenigen, die Philosophie wissenschaftlich beweisen können. Ich sitze beim Unterricht mit vielen leuchtenden Sternen über dem Kopf. So war es der Fall im Theosophie-Unterricht mit Christoph Hueck.
Es ist aber nicht das Wichtigste, den Koran als Buch zu verteilen, sondern in erster Linie geht es darum, Mensch zu sein.
Als Naturwissenschaftler hat er über wissenschaftliche Fakten gesprochen und anschauliche Materialen mitgebracht. Am schönsten war es, als er uns, nachdem wir einen Text zusammen mehrmals gelesen hatten, fragte: »Stimmt es, ist das nachvollziehbar?«. Es gab viele verschiedene Gesichtausdrücke bei meinen Klassenkameraden. Meine Antwort war meistens aber »nachvollziehbar«, da er uns oft Dinge erklärte, die ich sogar auswendig aus dem Koran kannte.
Je mehr ich mich für andere Sprachen und Gedanken, insbesondere die Anthroposophie öffne, desto weiter und tiefer verstehe ich den Koran.
Ein Beispiel dafür ist der Schlaf (der kleine Tod). Anthroposophisch betrachtet verlassen der Astralleib und das Ich den Körper des schlafenden Menschen. Der Gott sagt im Koran »Allah beruft die Seelen zur Zeit ihres Todes ab und auch diejenigen, die nicht gestorben sind, während ihres Schlafes. Er hält die eine, für die er den Tod beschlossen hat, zurück und gibt die andere auf eine festgesetzte Frist frei. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute, die nachdenken.« (Koran 39,42).
Ich freue mich, noch mehr mit der Anthroposophie zu tun zu haben und bin sehr froh, eine anthroposophische Muslima sein zu können. Ich bin froh, hier in Europa zu sein, wo der Einzelne frei denken und ein Mensch sein kann. Denn offen denken ist eine Bedingung um frei zu sein.Das Ergebnis bis heute ist, dass ich die Menschen besser verstehe und nicht nur eine neue Philosophie kennengelernt, sondern auch neue Wege entdeckt habe, meine eigene Lebensphilosophie tiefer zu verstehen.
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Lina Sami Saher Al-Chalabi
Geboren 1990 im Irak. Zurzeit im dritten Ausbildungsjahr im Erzieherseminar-Stuttgart.