Ein Rückblick.

Ein Beitrag von Tamara General.

Ich habe fünf Jahre lang im konsekutiven Mas­terstudiengang Waldorfpädagogik Klassenlehrer mit zweitem Fach Bildende Kunst / Malerei studiert und bin glücklich.
Bei einem Studium denkt man gleich daran, Wissen in genügend großer Menge anzuhäufen und, daraus resultierend, es auch automatisch anwenden zu können. Ich habe zuvor unter anderem zwei Jahre Mathematik in Vaihingen und Paderborn studiert, wo das ganz genau so zutraf. Doch im Studium, das mich darauf vorbereiten sollte, als Lehrerin arbeiten zu können, war es ganz anders.

Zunächst einmal habe ich mich selber kennengelernt. Meine ganzen Stärken und auch meine Schwächen lagen am Ende des ersten Studienjahres wie ein offenes Tableau vor mir. Das war natürlich erstmal eine große Last. Ich sah mich konfrontiert mit all den Fragen, von denen ich nicht mal wusste, dass ich sie hatte. Doch in diesem ersten Jahr an der Hochschule bemerkte ich auch, dass ich endlich die Chance bekam, Antworten zu bekommen.

Im zweiten Jahr beschäftigte ich mich ausschließlich mit der Bildenden Kunst. Die Tage und Nächte im Atelier und in der Werkstatt waren eine unbezahlbare Zeit mit unendlich vielen Höhen und Tiefen. Dieser glückliche Moment, in dem ich endlich begriff, dass ein Werk niemals fertig sein kann, wenn es lebendig bleiben soll … und dann diese Tage der Verzweiflung, in denen ich am liebsten alle Bilder zerrissen hätte.
All diese Momente warfen mich auch hier wieder auf mich selbst zurück. Das Ringen mit einem Bild und die Suche nach mir selbst darin ließen mich immer wieder fragen: Wer bist Du eigentlich?

Ich durfte mich noch einmal ganz neu kennenlernen. Vor allem habe ich beim Malen oder Plastizieren gelernt, wie gut es tut, scheitern zu dürfen, und dass es dafür vorab der Erlaubnis von mir selbst bedarf. Das war ein Gefühl der Freiheit.

Dieser glückliche Moment, in dem ich endlich begriff, dass ein Werk niemals fertig sein kann, wenn es lebendig bleiben soll.

Im dritten Jahr schrieb ich meine Bachelorarbeit. Sie beschäftigte sich vor allem mit dem Thema Bewusstsein. An dieser Arbeit habe ich gelernt, mich selbst in Raum und Zeit zu stellen. Wann bin ich eigentlich wirklich gegenwärtig? Und wann flüchte ich ich in Vergangenes oder Zukünftiges? Das waren Fragen, die für mich an existenzieller Bedeutung gewannen.

In meinen Masterjahren ging es vor allem um Aufmerksamkeit. Wem schenke ich sie? Und wie begegne ich jedem Tag und jedem Menschen neu?

Meine Masterarbeit war eine künstlerische Arbeit mit dem Titel ›Die Kugel: Form-Gesetz-Verwandlung‹. Diese Arbeit stellte sich heraus als der Denkanstoß für mich, endlich loszulassen von all dem, was ich von der Welt erwartete. Ich lernte hinzuhören, was die Welt von mir will. Im fünften Jahr war ich endlich bereit, Lehrerin zu sein.

Das oben Geschriebene spiegelt das wider, was ich im Studium gelernt habe und auch brauchte, um Lehrerin sein zu können.

Natürlich habe ich die Methodik und Didaktik meines Fachs gelernt, Unterrichtspraxis in Schulen erworben … ich habe auch gelernt, wie ein Unterricht aufgebaut wird … was rhythmisches Arbeiten bedeutet usw. Das sind alles wichtige Dinge, die ich unter »Wissen« verbuche. Aber anwenden kann ich sie doch nur, weil ich mich wirklich kennengelernt habe, in all den fünf Jahren ein Stückchen mehr. Und das ist das eigentlich Wertvolle an diesem Studium.

Wenn ich nun vor meiner sechsten Klasse stehe, weiß ich nicht immer, ob alles funktioniert, aber ich habe die Zuversicht. Die Zuversicht, die mir sagt: »Es wird schon alles gut gehen und es kann auch ganz anders werden als gedacht«.

Ich darf auch mal einen vorbereiteten Unterrichtsentwurf komplett morgens über den Haufen werfen und alles anders machen, wenn ich spüre, die Kinder brauchen gerade etwas ganz anderes. Und genau da bemerke ich, dass mein Unterricht genauso lebendig wird wie ein Kunstwerk. Und plötzlich weiß ich, genau das habe ich doch in den Ateliernächten gelernt.

Das Wichtigste ist doch, dass wir das, was wir tun, gerne tun und wir wissen, dass wir genau die Richtigen dafür sind, mit all unseren Stärken und Schwächen.

Die Leidenschaft, die ich für die Kunst und die Mathematik ganz offensichtlich habe, habe ich auch nun für mein ganzes Tun als Lehrerin. Wenn ich selbst eine Beziehung zu dem Stoff habe, den ich unterrichte, finden die Kinder auch ihre eigene Beziehung. Sie wissen dann: »Das hat etwas mit mir zu tun, was ich da lerne.« Es muss nicht immer alles schön und richtig aussehen, es muss nur das Eigene werden, für die Kinder selbstverständlich, aber auch für mich.

Die Freude, der Spaß und der Humor helfen mir, über meine eigenen Fehler lachen zu können und mir die Leichtigkeit zu bewahren.

Das ist das, was ich den ganzen Tag als Lehrerin tue, nebenbei bringe ich den Kindern Bruchrechnen, deutsche Grammatik und römische Geschichte bei.

Das Wichtigste ist doch, dass wir das, was wir tun, gerne tun und wir wissen, dass wir genau die Richtigen dafür sind, mit all unseren Stärken und Schwächen. Dass wir als Lehrer komplett identifiziert sind mit dem Beruf, der Schule und natürlich mit den Kindern. Dass wir wissen: Es hat einen Grund, dass genau Ich vor genau dieser Klasse stehe. Und dann bringen wir den Kindern bei, sich auch selbst genauso anzunehmen, wie sie sind. Dass sie sich selber schätzen lernen und sich irgendwann selbstständig in die Welt stellen können.

Tamara General

30 Jahre, Studium u.a. der Mathematik, Philosophie, Islamwissenschaft, Waldorfpädagogik, Kunst. Klassenlehrerin der 6. Klasse in der Freien Waldorfschule Vaihingen an der Enz seit September 2016.