Ein Studienjahr am Jugendseminar.
Ein Beitrag von Friederike Faber.
Ich habe keine Lust mehr auf Nachrichten. Schwammig formulierte Schlagzeilen verwirren, beiläufig wird über den Tod von Zivilisten berichtet, natürlich Fußball und welcher Prinz jetzt welche Bürgerliche geehelicht hat.
Eine Flut von schlechten Nachrichten steht direkt neben Banalitäten und überfordert mich. Sie erzeugt in mir das ohnmächtige Gefühl, als Kleinstteilchen dieser knapp 7,5 Milliarden großen Weltbevölkerung letztendlich nichts ausrichten zu können. Alle Rettungsaktionen und Schlichtungsversuche wirken wie eine hilflose Reaktion auf Ursachen, die niemand mehr durchschauen kann. Dass die Zeit drängt, wenn wir Menschenleben retten wollen, verstärkt den Druck nur. Also lieber keine Nachrichten mehr, oder? – An dieser Stelle möchte ich einen kleinen gedanklichen Umweg gehen und fragen: Müssen wir hassen, um zu wissen was wir nicht wollen?
Eigentlich kann doch ein Individuum, welches sich durch äußere Gegebenheiten wie Feindbilder definiert, nie frei sein. Um in dieser Welt tätig zu werden, müssten wir aber aus uns selber heraus handeln. Wenn wir in uns auf die Suche gehen nach dem, was wir sind und was nur wir an Fähigkeiten mitgebracht haben, können wir vielleicht einen zarten Keim unserer eigenen Identität finden. Diesen zu lieben und zu pflegen ist unsere Aufgabe, bis der Keim stark geworden ist und wir aus uns selbst heraus in die Welt treten können.
Diese Kraft, zu sich zu stehen, ist auch eine, die sagen kann: Ich beuge mich nicht dem Druck unserer Angstgesellschaft. Das Jugendseminar ist für mich der Ort, an dem ich lernen kann, diese innere Stärke zu entdecken. Ich kann hier ein bisschen mehr Ich werden, und die Idee, authentisch zu sein, wächst in Richtung einer Realität. Es ist der Ort, an dem ich den Mut fassen kann, mich der Welt zu stellen, und der Ort, an dem ich erkennen kann, dass ich nicht alleine bin mit meiner Suche nach dieser Kraft. Wir sind eine Gemeinschaft.
In meiner Schulzeit an einer Waldorfschule habe ich die freien Schulen bis auf Landesebene vertreten. In dieser Zeit habe ich mich viel mit unserem Bildungssystem auseinandergesetzt und mit der Frage, ob Schule allgemein Gemeinschaftsbildung fördert oder unterdrückt.
Das Jugendseminar ist für mich der Ort, an dem ich lernen kann diese innere Stärke zu entdecken.
Es wird schnell offensichtlich, dass unser Bewertungssystem Einzelkämpfer fordert und die Bildung von Eliten nach sich zieht. Genauso die Schwerpunktsetzung auf kognitive Leistung oder die Trennung der Klassen nach der Grundschule. Handwerklich oder sozial begabte Kinder haben eine viel geringere Chance auf Anerkennung. All diese Dinge sind für mich in Frage zu stellen, wenn ich behaupte: Zukunft heißt Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft freier Individuen.
Wollen wir uns frei nennen, sollten wir beginnen den Freiheitsbegriff weiter zu denken als bis zu einem »Ich kann machen was ich will«. Freiheit bedeutet auch Verantwortung und die Konsequenzen seines Handelns zu tragen. Unter diesem Blickwinkel stellt sich die Frage nach Engagement in der Welt für mich nicht mehr als Warum, sondern als Wie. Ich bin sicher, dass dort draußen Aufgaben auf mich warten und vielleicht bedeutet das Wort Berufung nicht, meine Aufgabe zu finden, sondern den Ruf von den Dingen zu hören, die getan werden wollen.
Es ist langsam an der Zeit, uns als die Generation zu erkennen, die mit diesen Problemen umgehen wird. Wir müssen uns endlich zutrauen, kreative und menschliche Individuen zu werden.
Schade nur, dass ich das Interesse für diesen Ruf in meiner Generation selten finden kann. Viel zu oft sind politische Diskussionen eher Spaßbremser, ist es doch um einiges amüsanter über Heidis neue Mädchen zu urteilen.
Eine Ursache für dieses aus Druck und Angst entstandene Desinteresse gegenüber wesentlichen Dingen ist für mich wieder in der Bildung zu finden. Wir leben in einem Zeitalter, in welchem Faktenwissen problemlos über das Internet abgerufen werden kann. Würde das ganze Auswendiglernen aus dem Lehrplan gestrichen werden, entstünde plötzlich ein riesiges Zeitfenster mit dem Potenzial, die Denk- und Empathiefähigkeit der Schüler zu wecken. Auf uns kommen definitiv Probleme zu. Ressourcenkriege, Übervölkerung und Klimawandel sind nur die Spitze eines gigantischen Eisberges.
Es ist langsam an der Zeit, uns als die Generation zu erkennen, die mit diesen Problemen umgehen wird. Wir müssen uns endlich zutrauen kreative und menschliche Individuen zu werden.
Das Jugendseminar bietet mir die Bedingungen, mich mit diesem »Werden« zu konfrontieren und ein Stück weit in diese Aufgabe hineinzuwachsen. Ich habe an mir selber erlebt, wie mein Interesse und meine Fragen von ganz alleine kommen, wenn ich den Menschen begegne, deren Schicksale mit den Schlagzeilen aus den Medien verbunden sind. Wie ist es, in einem Frankreich zu leben, das gegen die Angst vor neuen Terroranschlägen ankämpft, und eine Notstandsverordnung mitzuerleben?
Wie ist es, wenn man als vierzehnjähriger Georgier miterleben muss, wie die Russen während der olympischen Spiele 2008 in die Hauptstadt einmarschieren und Bomben fallen? Wie ist es, die Spaltung eines Landes mitzuerleben, welche 2013/14 in den ukrainischen Bürgerkrieg geführt hat? Menschen und Kulturen kennenzulernen führt ganz automatisch gegen ein Rassendenken und zu Interesse, Toleranz und Respekt.
Ich möchte mit diesen Menschen zusammenarbeiten, wegkommen aus einem Beharren auf Tradition und Kultur, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren und hingehen wollen zu einem Bewusstsein, dass wir alle Menschen dieser Welt sind. Lasst uns nicht mehr Recht haben wollen, sondern ein Verständnis füreinander entwickeln, dass wir alle Menschen dieser Welt sind. Ich denke, dann könnten wir trotz aller Probleme gelassen der Zukunft entgegentreten und offen sein für alles, das werden möchte.
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Friederike Sophia Faber
21 Jahre alt. Abitur an der Waldorfschule Leipzig, danach ein Jahr am Jugendseminar Stuttgart. Mittlerweile in Irland, work and travel.