Vortragsbericht bA18 von David Kretschmann, Tagungsteilnehmer.
Ich befand mich in einer verzweifelten Phase meines Lebens, als ich erstmals mit Gerald Hüther in Kontakt gekommen bin und etwas Neues für mich entdeckte. Damals las ich eines seiner Bücher mit dem Titel „Eine Bedienungsanleitung für das menschliche Gehirn“. Es war das spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts zentrale Phänomen in der Forschung der Neurowissenschaften – Neuroplastizität – welches in diesem Buch thematisiert wird und mich damals wie heute tröstet und hoffnungsvoll stimmt. Dieses Phänomen, die Fähigkeit unseres menschlichen Gehirns sich zeitlebens umzustrukturieren, ermöglicht uns lebenslang fruchtbare Lernprozesse. Auch geistige Übungen wie Meditation oder Achtsamkeit manifestieren sich auf neuronaler Ebene in Form von neuen oder dem Ausbau bereits angelegter Verknüpfung von Nervenzellen in unserem Gehirn. In dem oben genannten Buch verwendet Gerald Hüther die Infrastruktur, unser Straßenverkehrsnetz, als Metapher für die Strukturen im menschlichen Gehirn. Häufig genutzte Wege werden zu mehrspurigen Straßen ausgebaut, nur einmal genutzte Wege verwildern zunehmend, verschwinden gegebenenfalls ganz und neue Wege zu nutzen ist jederzeit möglich, wenn auch anfänglich mühsam, gleich dem Nutzen eines Trampelpfades im Vergleich zu einer asphaltierten Straße.
Auch in seinem Vortrag bei der bildungsART 18 mit dem Titel „In Würde leben – wie geht das?“ spielte das beschriebene Phänomen die Hauptrolle. In den einleitenden Worten sprach Gerald Hüther davon, dass dieses die größte Umbruchphase der Menschheit seit 10.000 Jahren eingeleitet habe. Dabei denkt er wohl kaum an die naturwissenschaftliche Erkenntnis als solche, sondern vielmehr an die Konsequenz dieser Erkenntnis für unser zwischenmenschliches sowie politisches Handeln. Ich möchte diese Konsequenz einmal wie folgt zusammenfassen: „Jeder ist seines eigenen Gehirnes Schmied“, eo ipso für sein Handeln verantwortlich. Eine Rechtfertigung des eigenen Handels aus dem sozialen oder kulturellen Umfeld heraus verliert an Gewicht. Der Umbruch bezeichnet also den Zusammenhang von Neuroplastizität und Selbstverantwortung, ja Mündigkeit im kantischen Sinne. Gerald Hüther stellt diesen Umbruch als eine kulturhistorische Notwendigkeit für würdevolles Leben, des Einzelnen mit sich und in der Gesellschaft, dar. Die Würde versteht er als ein Orientierungsprinzip, welches die Funktion von hierarchischen Strukturen ersetzen kann. Sie soll als eine Art Kompass dienen, um unser Handeln so auszurichten, dass es unser Gehirn in einen kohärenten Zustand bringt, den es gemäß seiner Natur um Energie zu sparen (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik) anstrebt und der uns zufrieden stimmt. Aufgrund zunehmender Komplexität unserer Umgebung können die historisch gefestigten hierarchischen Strukturen nicht mehr als Orientierung zum Erreichen dieses Zustandes dienen. Passend zu der sehr persönlichen Geste des gesamten Vortrags beschrieb er als Antwort auf eine Frage bezüglich der genannten zunehmenden Komplexität die eigenen Familienverhältnisse. Diese seien mit seinem Großvater an der Spitze sehr klar hierarchisch strukturiert gewesen, alle Familienmitglieder konnten sich an diesem orientieren, er herrschte Zufriedenheit. In unserer zunehmend individualisierten Gesellschaft allerdings sind Familienverhältnisse oft sehr kompliziert geworden, die einzelnen Mitglieder leben nicht mehr gemeinsam auf einem Bauernhof oder auch nur in derselben Stadt, die Scheidungsrate ist sehr hoch, es gibt viele Patchwork-Familien. Die Pointe ist, dass nicht nur im Bereich der Familie hierarchische Strukturen ein Auslaufmodell sind.
Würde wird von Hüther also gedacht als Orientierungsprinzip in unserer gegenwärtig zunehmend komplexer werdenden zwischenmenschlichen und gesellschaftlicher Umgebung. Stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieses Prinzips? Ich denke, Gerald Hüther geht bei dieser Frage mit dem Anfang des die bildungsART 18 umspannenden Zitats von Sophie Scholl mit: „Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns (nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind.)“. Er nennt trotz Eingeständnis soziokultureller Färbungen der individuellen Maßstäbe, gleichbedeutend mit Würde-Vorstellung, zwei Gemeinsamkeiten in der Ausrichtung dieser hin zu Verbundenheit, resultierend aus dem allen Menschen immanenten Bedürfnis nach Zwischenmenschlichkeit, und Autonomie, resultierend aus dessen Streben nach freier Entfaltung. Er sagt, die Anlage zur Ausprägung einer Würde-Vorstellung ist jedem Menschen a priori gegeben. Das Würde-Empfinden von kleinen Kindern, die auf würdelosen Umgang zum Beispiel mit Schreien reagieren, obwohl in diesem Alter wohl nicht von einer ausprägten Würde-Vorstellung ausgegangen werden kann, führt er als unmittelbare Evidenz an.
Nun möchte ich diesem Vortrag nicht nur der Sache nach gerecht werden, sondern auch dessen deutlichen Appellcharakter zur Sprache bringen. Gerald Hüthers Intention an diesem Abend war es eindeutig nicht, dem Zuhörer seine anthropologische Theorie zu erklären. Ich denke, sein Anliegen ist eben diese für eine praktische Anwendung fruchtbar zu machen, jeden Menschen dazu zu ermutigen, sich auf die Suche zu machen nach der eigenen Würde-Vorstellung und diese durch die Praxis im eigenen Gehirn zu verankern. Es handelt sich um einen Lernprozess, der aus oben genannten Gründen heutzutage unumgänglich geworden ist. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse können da nur zur Ermutigung dienen, damit ein jeder sich auf den Weg macht und die goldene Regel „was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“, in der Philosophie im kategorischen Imperativ Kants zu finden, wieder ein zufriedenes, zum Frieden hin gerichtetes, würdevolles Zusammenleben der Menschheit ermöglicht. Um diese in meinem Verständnis aufklärerische Bewegung in Gang zu setzten, hat Gerald Hüther die Gründung von „Würdekompass-Gruppen“ initiiert, in denen Menschen sich gemeinsam auf den Weg machen können. Auf www.wuerdekompass.de gibt es dazu weitere Informationen.
Gerald Hüther ist ein sehr sympathischer Mann der Tat, den ich im persönlichen Kontakt nach dem Vortrag als authentischen Vertreter seiner Idee erleben durfte.