Was bedeutet Vertrauen?

Ein Beitrag von Patrick Trettin.

Das Folgende ist ein Versuch, zwei Pro­blem­felder anzureißen, die zunächst nicht miteinander verbunden zu sein scheinen und doch eng miteinander verwoben sind.

In »der Waldorfszene« wird oft jede Leis­tungsorientierung abgelehnt. Der Begriff des »Leistungsstands« ist so verbrannt, dass man ihn vorher ankündigen muss: »Ich benutze jetzt ein böses Wort: Leistungsstand.« Und selbst dann erntet man in verschiedensten Situationen noch Un­verständnis bis Ablehnung. Gleichzeitig wird von dem Vertrauen gesprochen, »dass das schon kommt, wenn die Zeit reif ist«.

Fangen wir mit dem Leistungsbegriff an: Meiner Ansicht nach ist dessen Ablehnung eigentlich eine Ablehnung des Wertens. Doch was werten wir? Wir bewerten Leistung – nicht den Menschen! Jeder stimmt zu, dass wir keine Menschen (be-)werten wollen. Doch natürlich geht es in der Schule (und nicht nur da) um Leistung! Was ist für uns Leistung? Wir müssen unseren Leistungsbegriff definieren!

Die Nichteinforderung von Leistung führt zu Unterforderung, dies hat Störungen zur Folge, und Störungen unterminieren die Ar­beitsatmosphäre. Oft sind es gerade die starken Schüler, die stören. Das sollte uns zu denken geben. Viele Störungen sind eine versteckte Aufforderung nach Anspruch, nach Forderung – geradezu Hilferufe. Oft wird das (zu) langsame Fortschreiten im Stoff, das (zu) niedrige Niveau, damit begründet, die Leistungsschwachen nicht verlieren zu wollen. Ein ehrenwertes Ziel. Doch diese profitieren nicht, denn sie können sich wegen der lauten Arbeitsatmosphäre nicht konzentrieren. Letztlich sinkt die Leistung kontinuierlich, während die Belastung für alle steigt! Das ständige Rausschmeißen (meist intelligenter, potenziell leistungsstarker) Schü­ler ist allgegenwärtig. Nicht selten weiß sich der Lehrer nicht mehr anders zu helfen, als die Klasse regelmäßig zusammenzuschreien. Kann das die Lösung sein? Viele Lehrer weinen sich abends in den Schlaf, verzweifeln, geben auf. Wem hilft das?

Meiner Auffassung nach führt die Nicht­einforderung von Leistung dazu, dass wir Lehrer die Schüler ihrer Freiheit berauben, indem diese nicht das Nötige von uns mitbekommen, um ihre Mission auf dieser Welt zu erfüllen. Wir berauben sie ihres Zukunftspotenzials!

Warum vertrauen wir nicht unserem Kön­nen?

Warum vertrauen wir nicht unserem Kön­nen? Warum machen wir keinen Unterricht, in dem auch das hellste Köpfchen aus jeder Stunde etwas mitnehmen kann? Ich will nicht sagen, dass das leicht ist. Aber wollen wir einen leichten Job? Wenn jeder Schüler nach dem Unterricht spürt: »Ja, das hat mir was gebracht«, dann herrscht eine positive Atmosphäre. Mit dem Anspruch, auch dem stärksten Schüler »Futter zu geben«, wird der Unterricht automatisch anspruchsvoller. Dann wird sich die ganze Gruppe nach oben orientieren. Ohne einen gesunden, positiven Leistungsbegriff wird dies jedoch nicht funktionieren.

Leistung einzufordern, den Anspruch an­zuziehen – hängt das nicht die schwächeren Schüler ab? Möglicherweise, doch nicht, wenn wir unser Kerngeschäft nicht vernachlässigen: Das Bei-jedem-Kind-Sein. Vergegenwärtigen wir uns die Situation eines jeden Kindes, dann wird dies nicht unbemerkt bleiben. In einer gesunden Arbeitsatmosphäre haben wir vielleicht auch eher die Zeit und die Ruhe, uns dieser Kinder anzunehmen. Übstunden oder Sonderstunden können gezielt genutzt werden, und reicht dies nicht, dann können wir die Hilfe des Förderlehrers oder anderer Spezialisten hinzuziehen. Zu all dem haben wir die Kraft, wenn wir gestärkt nach Feierabend auf einen gesunden Schultag zurückblicken.

Der Lehrplan (noch so ein böses Wort) hat seinen Sinn. Man kann ihn diskutieren, ob er heute noch passt und ob er in den immer heterogeneren Klassen in dieser Form noch gültig sein kann. Doch wenn da Anpassungen vorgenommen werden, dann wohl eher in eine Beschleunigung. Die Stoffdichte steigt, und die Entwicklung der Kinder hat sich beschleunigt, nicht verlangsamt! Das verschärft die Problematik »hinterherhinkender« Klassen.

Wir vertrauen zu oft darauf, dass »das schon kommt wenn die Zeit dafür ist«! Ja, die Entwicklung der Kinder ist heterogen. Aber von alleine »kommt« da nichts. Wir müssen Leistung einfordern und dabei abspüren, ob bei dem einzelnen Kind die Zeit jeweils reif ist. Nur zu warten, reicht nicht. Vertrauen wir unserem Können, nicht der Zeit! Seien wir wach und hinterfragen wir den Lehrplan stets dahin gehend, ob er entwicklungsgemäß ist, jedoch mit dem Duktus, ihn erfüllen oder ergänzen zu wollen, und grübeln wir nicht, was wir noch alles weglassen können. Vertrauen wir der Leistungsfähigkeit und dem Leistungswillen unserer Schüler. Kitzeln wir heraus, wozu sie fähig sind – aus Verantwortung jedem einzelnen Kind gegenüber.

Erziehung zur Freiheit heißt auch Vertrauen

Wir müssen uns in die Lage versetzen, jederzeit über den Leistungsstand aller Schüler Auskunft geben zu können. Ergänzen wir unsere tägliche Rückschau auf jedes Kind um einen Blick auf diesen Aspekt. So bleiben wir wach für das einzelne Kind. Und lasst uns mit fortschreitender Entwicklung der Kinder offen und positiv mit Leistung umgehen. Gerade Jungs wollen sich aneinander messen, wollen den Wettbewerb! Sensibel pädagogisch gestaltet ist positiver Wettbewerb absolut anzustreben, er spornt an. Ihn aus Angst zu unterdrücken, wird dem Wesen der meisten Jungs und so mancher Mädchen nicht gerecht.

Wir erziehen zur Freiheit. Wer sich frei entfalten können will, muss einen positiven Leistungsbegriff verinnerlicht haben, muss Leistung auch bewerten können. Haben wir dies geschafft, können und müssen wir loslassen. Dann ist es unsere Aufgabe, eine Kultur zu schaffen, in der Schüler (und Studenten) gestalten können, durch Leistung überzeugen können und im Idealfall aus sich selbst heraus Zusätzliches leisten wollen. Wir müssen Anforderungen definieren und eine positive Leistungskultur etablieren. Wir müssen transparent für die Schüler und Studenten messen und beurteilen. So fördern wir Selbstreflexion, machen unseren Nachwuchs selbstsicherer und mündig. In den Anforderungen müssen wir stets beweglich bleiben – aber nicht beliebig.
Wir müssen in unseren Nachwuchs Ver­trauen haben. Allzu oft findet man in an­thro­posophischen (Aus-)Bildungseinrichtun­gen den Habitus, eigentlich schon sehr reife, teilweise längst Erwachsene wie Schulkinder zu behandeln nach dem Motto, man wisse schon, was gut für sie ist. Nein: Erziehung zur Freiheit heißt auch Vertrauen »wenn es so weit ist«.

Kein Lehrer, Ausbilder oder Dozent weiß, wohin es seine Schüler, Auszubildenden oder Studenten einmal verschlagen wird, was deren Mission letztendlich ist. Lasst uns unsere Strukturen, Curricula usw. so aufbauen, transparent machen und kontinuierlich ver­bessern, dass jene, wenn sie älter sind, sich daran entwickeln können. Wenn wir das tun, können wir zu Recht darauf vertrauen, dass sie ihren Weg mündig und selbstsicher, weil mit allem Nötigen ausgestattet, gehen werden.
Vertrauen wir da, wo es angebracht ist, und gehen wir voran da, wo es gebraucht wird.

Patrick Trettin

Assistenzlehrer und Masterstu­dent in Waldorfpädagogik mit Nebenfach Englisch an der Alanus Hoch­schule in Alfter, vorher Bachelorstudium der Waldorfpädagogik in Stuttgart nach fast 15 Jahren praktischer Tätigkeit an einer Montessori-Schule.