Die Rolle der Philosophie im Zusammenhang einer umfassenden Menschenbildung– eine Selbstvergewisserung.

Von Paula Kühne, erschienen in der Campyrus, Ausgabe März 2019.

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Wer ist der Mensch?

Es ist kein wissenschaftlicher Blick notwendig, um zu erkennen, dass wir in einer Welt von Krisen und Konflikten, von Komplexität und Herausforderungen leben, mit denen wir zunehmend konfrontiert sind. Bietet die Philosophie mit ihren Fragen, wie z.B. Kant sie stellte, einen Ausgangspunkt für dieses Anliegen? Ich behaupte Ja. Mit diesem Text lege ich dar, warum ich davon überzeugt bin.

Von der Möglichkeit, bewusst neue Fähigkeiten zu erlernen

Die Philosophie gibt uns die Möglichkeit, nicht nur nach dem Was, sondern auch nach dem Wie des Denkens und Handelns zu fragen. Wir lernen mit ihr, wesentliche Aspekte einer Sache wahrzunehmen, ein Verständnis für Zusammenhänge zu entwickeln und Fragen zu stellen, die sich aus diesem Umgang ergeben.

Wahrnehmen, Verstehen und Fragen beinhalten viel mehr ein Können als ein Wissen. Etwas zu können, wie z.B. Fahrrad fahren, befähigt dazu, in den verschiedensten Situationen und mit den verschiedensten Fahrrädern dieser Welt zu fahren. Eine Fähigkeit erlaubt es mir, etwas in seinem Zusammenhang zu verstehen und zu handhaben.

Lassen sich Lernbedingungen schaffen, die ermöglichen, das Denken zu üben und nach seinem Wie zu fragen? Wenn ja, kann ich so zu erkennen lernen, wie ein Gedanke entstanden ist. Ich kann erkennen, wie er zur Tat wurde, die unsere Welt prägt.

Prozesse verstehen und gestalten lernen

Es ist eine große Herausforderung unserer Zeit, etwas einzusehen und dann auch zu tun. Doch es ist oftmals viel schwieriger, das Wissen zu leben, als es nur zu haben.

Den entscheidenden Übergang vom Denken zum Handeln lernen wir kennen, wenn wir darauf aufmerksam werden, was zwischen Denken und Handeln liegt und sie verbindet: Wenn ich erkenne, dass es notwendig ist, sich der Umwelt zuliebe für Demeter-Lebensmittel zu entscheiden, dann steht dieses Ereignis nicht im luftleeren Raum. Es hat mich betroffen gemacht, dass wir mit konventioneller Landwirtschaft die Natur schädigen und zerstören. In dem ganzen Prozess, der meiner Entscheidung voranging, habe ich also schon einige Gedanken gefasst, ohne die mein Entschluss gar nicht möglich gewesen wäre.

Philosophisches Fragen führt uns über uns hinaus. Es berührt auch die größeren Themen, die hinter den Alltagsdiskussionen stehen: Wie trete ich anderen Menschen gegenüber? Wie lerne ich, mutig zu sein und Verantwortung zu übernehmen, für mich und für Andere?

Zwischen dem theoretischen Denken und dem praktischen Handeln liegt ein offener Raum von Möglichkeiten, in dem Fragen dieser Art auftauchen können: Ändert sich eigentlich eine Sache, wenn ich mich mit ihr beschäftige? Ändere ich mich dadurch auch? Durch diesen Prozess entsteht eine Verbindung zwischen mir und der Welt, die mich zum Mitbetroffenen macht und mich zum bewussten Handeln führt.

Der Raum zwischen Theorie und Praxis bleibt jedoch verschlossen, wenn wir uns nicht dafür entscheiden, ihn uns bewusst zu machen. Ist das der Ort von Achtsamkeit, Gewissen, Weitsicht, Verantwortung, Nachhaltigkeit, Freiheit? Wenn ja, bedürfen diese Prozesse unserer Entscheidung, auf sie aufmerksam zu werden und sie gestalten zu lernen.

Philosophie studieren – ist das nicht völlig weltfremd?

Berechtigterweise kann man nun fragen, welche konkreten Inhalte einem dann in einem Studium der Philosophie begegnen. Auch die Philosophie hilft uns nicht weiter, wenn wir mit ihr nur im Hier und Jetzt bleiben. Was das Vorher, Jetzt und Nachher meiner Entscheidung ist, ist in der Philosophie die Ideengeschichte. Die Geschichte der Ideen, die Menschen schon immer praktisch beschäftigt haben.

Je länger man sich mit der Ideengeschichte auseinandersetzt, desto mehr hat man den Eindruck, dass die dort bewegten Fragen uns auch heute betreffen. Ohne den Prozess zu kennen, durch den sich Ideen entwickelt haben, können wir auch nicht mehr verstehen, wo wir heute angekommen sind, und noch weniger, wo wir hingehen wollen.

Die Ideengeschichte begegnet uns in der Form von Texten. Hermeneutisches Text-Studium – nicht als Selbstzweck, sondern in dem klaren Bewusstsein, dass uns hier das Denken von Menschen begegnet. Im Denken-Lernen eines anderen Gedankens und einem Verständnis für seine Eigenart in seiner Zeit entsteht die Fähigkeit, Fragen an die Gegenwart zu formulieren und sich ein eigenständiges Urteil zu bilden. Denken-Lernen erfordert es, Denken zu tun: Die Ideengeschichte bietet hierfür ein angemessenes Feld.

Nun besteht die Welt nicht nur aus Gedanken, sondern konfrontiert uns mit Phänomenen, die wir verstehen wollen. Wenn wir beobachten, wie wir urteilen, können wir auch nach dem Neuen und Unbekannten fragen. Eine gewagte Phänomenologie als zentraler Bereich der Philosophie thematisiert die Art und die Möglichkeiten unseres Wahrnehmens. Durch ein qualitativ anderes Wahrnehmen von Phänomenen und Denkformen sind wir in der Lage, tiefer zu erkennen und andere Lösungen für sie zu finden.

Philosophie zu studieren bedeutet Früchte zu ernten, die in einem nur angewandten Bereich nicht hätten gesät werden können. In einer immer schnelleren Welt heißt es, anzuhalten, um persönliche Reifeprozesse und das Wachsen eigenständigen Denkens zu ermöglichen.

Gemeinsam denken und handeln

Wir werden bestimmten Herausforderungen unserer Zeit nur als Gemeinschaft konstruktiv werden begegnen können. Dies stellt uns vor die Frage, was eine Gemeinschaft trägt, die in der Lage ist, Probleme zu verstehen und zu lösen. Gemeinsames Handeln erfordert, gemeinsam denken zu können. Philosophieren bedeutet, gemeinsam denken zu üben.

Die Schwierigkeit, gemeinsame Antworten auf unsere Probleme zu finden, kennen wir. Eine gemeinsame Frage hingegen kann einen Prozess eröffnen, der den Anfang einer Zusammenarbeit bildet. In ihm wird keine Methodik oder Lehre angewandt. Stattdessen wird die Entwicklung des Prozesses selbst zur Frage gemacht. Gemeinsame Fragen zu finden, schließt mögliche Perspektiven ein, statt richtige festzulegen. Darin ist Raum für Offenheit, Widerspruch, Ambivalenz.

Dies heißt auch, dass es gelingen kann, im gemeinsamen Denkprozess eine alte Vorstellung loszulassen, wenn durch den Prozess einsichtig wird, dass eine Andere sinnvoller erscheint. Von diesem Punkt ist auch ein gemeinsames Entscheiden nicht weit entfernt. Gemeinsames Denken kann der Beginn von gemeinsamem Handeln sein, vielleicht sogar die Bedingung dafür.

Dies betrifft alle Institutionen, in denen Menschen zusammenarbeiten und Entscheidungen treffen. Orte philosophischen Wirkens können somit von Unternehmensberatungen und politischen Institutionen bis hin zur Arbeit in pädagogischen und künstlerischen Arbeitsfeldern reichen.

Wir können gemeinsam nur etwas Neues schaffen, das wir zuvor gemeinsam gedacht haben. Die Fähigkeit des gemeinsamen Denken-Könnens ermöglicht es, im Sinne einer „Didaktik des Denkens“ Arbeitsprozesse in Gruppen anzustoßen und zu begleiten und wirft so ein neues Licht auf die Frage von Führung und Zusammenarbeit in Organisationen. Das kostbare Potenzial, gemeinsam denken zu können muss unbedingt in Schulen und Stätten für Erwachsenenbildung hineingetragen werden, um so frischen Wind in nicht hinterfragte Prozesse zu bringen und diese zu erneuern.

Autorin:
Paula Kühne, Absolventin des Masters Philosophie an der Cusanus Hochschule, derzeit beteiligt beim Aufbau der Weiterbildung „LEBENDIGE PHILOSOPHIE – DENKEN FÜR ORGANISATIONEN VON MORGEN“ an der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte in Bernkastel-Kues.