Zeige Deine Wunde – ein Filmabend im Rudolf Steiner Haus

Film und Gespräch mit Rüdiger Sünner, Claudia von Knorr, Rainer Rappmann, Walter Kugler und Jannis M. Keuerleber (Moderation).

Ein Bericht von Jannis Keuerleber.

Es gibt besondere Momente im Leben, in denen der Lauf einer Biographie einen wesentlichen Impuls bekommt und für einen Augenblick das Schicksalsgewebe transparent wird. Joseph Beuys erlebte eine solche Initiation in den eigenen Lebensweg in der Begegnung mit dem Werk von Wilhelm Lehmbruck. Die Entscheidung für eine naturwissenschaftliche Laufbahn war eigentlich schon gefallen, als, wie in einem beiläufigen Kunsterlebnis der Lebensimpuls Lehmbrucks zur Einladung für Beuys eigenem künstlerischen Weg wurde. Mit „Schütze die Flamme“ fasste Beuys in seiner letzten öffentlichen Rede vor seinem Tod diese Erfahrung in Worte und war sich wohl bewusst, dass Wilhelm Lehmbrucks letzter Wille sich vor seinem Tod 1919 mit dem Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus in dem „Aufruf an das Deutsche Volk und die Kulturwelt“ verband. Beuys ergriff von da an den Weg des Künstlers, Plastikers und die Soziale Plastik als Kulturimpuls, die sich in den Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ hineinkristallisierte.

Elias Bohn griff mit feinem Gespür diese Lebensmomente für den künstlerischen Auftakt zu dem Filmabend „Zeige Deine Wunde“ auf und sprach aus der Mitte des Publikums eine Performance, die die Kraft im Wort von Joseph Beuys zum Erlebnis werden ließ und entzündete eine Kerzenflamme, die wir den Abend über hüteten. Er lud uns damit aber auch ein, die persönliche Frage zu stellen, welche Flamme ich eigentlich schütze? Und so sehr sie sich vielleicht an einem geistigen Lehrer entzündet, wie findet sie eine ganz mir eigene Erscheinungsform? Denn auch wenn die innerlichen Bezüge zwischen Lehmbruck und Beuys inniglich sind, ist das äußere Erscheinungsbild der Kunstwerke doch grundverschieden.

Schon in den ersten Szenen des Films wurde deutlich, wie auch der Autor und Regisseur Rüdiger Sünner in diesem Sinne einen biographischen Impuls in der Begegnung mit dem Werk von Joseph Beuys erfahren hatte, der wohl letztlich bis zur Verwirklichung dieser Dokumentation führte – und nun in die Begegnungen, die sich aus ihr ergeben, wie an diesem Abend.

In einfühlsamen Bildern und Erzählungen ist es ihm gelungen ein feines Portrait des Künstlers, aber auch ein tieferes Verständnis seiner Arbeit aufzuzeigen, was die etwa 170 Gäste des Abend sichtlich bewegte. Besonders von dem Umgang mit der Sensibilität des Menschen, seiner Verletzlichkeit und den Wunden unserer Welt und dem beständigen Versuch, durch seine Kunst Heilungsprozess anzuregen. Nicht, indem Symptome bekämpft wurden, sondern in der Suche nach der tieferen Quelle der Verwundung. Kein „Spinatökologismus“, wie er selbst sagte, sondern das einzige, was es aufzurichten gälte, sei die menschliche Seele. Dann sei alles andere auch gerettet.

Mit diesem Schlussplädoyer entließ uns der Film in die Pause und lud erneut zum Gespräch im Anschluss ein. Mit Claudia von Knorr, Rüdiger Sünner, Rainer Rappmann und Walter Kugler waren echte Beuys-Kenner auf dem Bühnen-Rand-Podium versammelt, aber auch Menschen, die sich sehr persönlich mit den Impulsen dieses Künstlers verbunden haben.

Wie ein sprechendes Bild konnte ein „echter Beuys“ – eines seiner Multiples – eine kleine, leere Kiste aus Holz, in die mit feinen Linien gezeichnet und „Intuition“ geschrieben war – für diesen Abend sprechen. Denn es wurde erlebbar, wie die Kunst eine produktive Leerstelle markiert und gerade dort, wo es rätselhaft ist, ein kreativer Prozess angeregt wird. Aber auch aus dem Publikum wurde an dieser Stelle klar, wie gerade in Beuys’ Werk jeder, in der Auseinandersetzung mit ihm, auf sich selbst und auch in Einsamkeit zurückgeworfen wird – auf die eigene Begrenztheit und vielleicht sogar Wunde. Gelingt es diese gerade in der Begegnung mit anderen Menschen zu offenbaren, dann kann auch Heilung geschehen. In diesem Sinne spricht sich vielleicht im Mythos von der intensiven Pflege durch die Krim-Tartaren nach Beuys Flugzeugabsturz im Zweiten Weltkrieg eine tiefere Wahrheit aus, als es der Historismus vermag, der diese Legende widerlegte.

Spürbar war auf jeden Fall, dass auch diese Geschichte, wie sie von Rüdiger Sünners Film erzählt wird, uns sehr gegenwärtig bewegt hat. Wenn Beuys sein eigenes Phänomen also auf diese Weise charakterisiert: „Ich weiß, dass ich mit Kräften umgehe“ – dann stellt uns das vor eine Herausforderung, auf dieser Ebene auch anzuschließen, gerade heute, wo der „Meister“ nun tot ist. Doch an diesem Abend ist die Qualität seiner Arbeit erlebbar lebendig geworden und hat gleichzeitig gezeigt, dass weder Intuition, noch Heilung, Kunstverstehen oder Wärme im Denken Prozesse sind, die von alleine passieren, aber gemeinsam und mit Interesse und Aufmerksamkeit gelingen können.